2014 - Hans Holzhaider

Laudatio von Barbara Distel zur Verleihung des Hermann-Ehrlich-Preises

In wenigen Monaten wird der 70jährigen Wiederkehr der Befreiung des Konzentrationslagers Dachau gedacht werden. Es gibt heute nicht mehr viele Menschen, die sich bewusst an dieses Ereignis erinnern können, weder in der klein gewordenen Gemeinschaft der überlebenden Häftlinge noch unter den Bewohnern der Stadt Dachau, die seither mit der Geschichte des zwölf Jahre andauernden Verbrechens in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft leben müssen. 70 Jahre sind eine lange Zeit im Leben eines Menschen und auch in der Entwicklung einer Stadt wie Dachau, die sich seit 1945 von einer ländlichen Kleinstadt zu einer großen Kreisstadt im unmittelbaren Einzugsgebiet der Großstadt München gewandelt hat. Parallel dazu haben sich auch Haltung und Umgang der Bewohner Dachaus zum ehemaligen Konzentrationslager - das inzwischen seit nahezu fünf Jahrzehnten Gedenkstätte ist - im Laufe der Jahrzehnte verändert. Wenn wir heute zusammengekommen sind um den Journalisten Hans Holzhaider für seine Arbeit in Dachau mit dem vom „Bündnis für Dachau“ gestifteten Hermann-Ehrlich-Preis auszuzeichnen, dann richtet sich der Blick zurück auf die Jahre 1978 bis 1986, in denen Hans Holzhaider Mitglied der Dachauer Redaktion der Süddeutschen Zeitung war.
Heute genießen Erinnerung an und Aufklärung über die nationalsozialistischen Verbrechen breite gesellschaftliche Anerkennung. Die KZ-Gedenkstätte ist in einem früher unvorstellbaren Ausmass personell und finanziell ausgestattet und die Stadt Dachau unterstützt und fördert seit Jahren zeitgeschichtliche Projekte. Dabei ist in Vergessenheit geraten, dass es Jahrzehnte gedauert hat, bis sich Diskreditierung und Ablehnung der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus zu eben dieser Anerkennung gewandelt haben. Hans Holzhaider hatte in Dachau einen nicht unbeträchtlichen Anteil an dieser Entwicklung. Als er seine Arbeit in der Dachauer SZ-Redaktion begann, unterstand die Gedenkstätte noch der Bayerischen Verwaltung der Staatlichen Schlösser, Gärten und Seen. Von dort gab es weder Interesse an der Arbeit noch eine angemessene Ausstattung der Gedenkstätte, die inmitten der wunderbaren Pracht der Königsschlösser und Gärten doch eher eine als peinlich empfundene Außenstelle gesehen wurde, von der möglichst wenig in die Öffentlichkeit dringen sollte. Und in der Stadt Dachau wollte die regierende Mehrheit, an erster Stelle ihr Oberbürgermeister das Image der Stadt vor den Schatten der Vergangenheit mit manchmal abstrus erscheinenden Argumenten bewahren. So sei das Konzentrationslager nicht auf dem Gebiet der Stadt Dachau sondern auf dem Gebiet der Gemeinde Prittlbach errichtet(und erst später eingemeindet worden) und habe daher nichts mit der Stadt zu tun. Die Dachauer Bevölkerung werde ungerechterweise stellvertretend für alle Deutschen für die Verbrechen der Nationalsozialisten verantwortlich gemacht. Zu erinnern sei deshalb in erster Linie an die Dachauer Künstlerkolonie des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die den Namen der Stadt positiv in die Welt getragen habe. Er ließ den Spruch Ludwig Thomas „in Dachau war’s doch am Schönsten“ an öffentlichen Gebäuden anbringen. Wie dieser Spruch auf Menschen wirkte,die als Häftlinge in Dachau gequält worden waren, kam ihm wohl gar nicht in den Sinn. Eine seiner ersten Wege in Dachau führt Hans Holzhaider in die Gedenkstätte, wo er sich über Arbeit und Probleme informierte und seine Unterstützung anbot. Er war neben dem SZ-Journalisten Hans-Günther Richard - der doch eher die Mythen der Stadt pflegte, etwa dass die SS dort verabscheut wurde und die Bevölkerung generell den Häftlingen geholfen hatte - der Erste, der sich in seiner publizistischen Arbeit intensiv mit der Stadtgeschichte der Jahre 1933-1945 und deren Verbindungen zum Konzentrationslager auseinandersetzte. (Die zeithistorische Studie von Sybille Steinbacher „Dachau - Die Stadt und das Konzentrationslager in der NS-Zeit. Die Untersuchung einer Nachbarschaft“ erschien erst im Jahr 1993). Eines seiner grösseren zeithistorischen Projekte war 1982 eine Artikelserie für die Dachauer Süddeutsche über den so genannten „Dachauer Aufstand“ vom 28. April 1945, die 1982 auch als Broschüre publiziert wurde (Neuauflage 1995). Eine Gruppe Dachauer Bürger wollte zusammen mit einigen geflohenen KZ-Häftlingen die kampflose Übergabe der Stadt an die amerikanischen Befreier organisieren. 37 Jahre nach den dramatischen Ereignissen am Vortag des Einmarsches der Amerikaner in Dachau und der Befreiung des Konzentrationslagers rekonstruierte Hans Holzhaider die Vorbereitung und den Verlauf des gescheiterten Vorhabens, das drei Dachauer Bürgern und drei geflohenen KZ-Häftlingen das Leben kostete. Noch fand er eine Reihe von Menschen, die sich an diese dramatischen Stunden erinnerten und die ihre Erinnerungen mit ihm teilten. Und wenn auch nicht alle Fragen und Abläufe mehr restlos zu klären waren, so gelang es Hans Holzhaider doch, ein dichtes Bild des dramatischen Geschehens zu zeichnen und jedem der sechs unglücklichen Opfer mit einer eindrücklichen, unpathetischen Kurzbiographie ein Denkmal zu setzen. Nicht zuletzt auf Grund der Forschungen von Hans Holzhaiders erhielt der dem Dachauer Rathaus gegenüber liegende Platz, der nach 1945 vom „Platz an der Stadtlinde“ in „Widerstandsplatz“ umbenannt, was jedoch vollständig in Vergessenheit geraten war, sein verschwundenes Namensschild zurück. Das Gleiche galt für die, dem ehemaligen SS-Lager entlang verlaufende 1945 umbenannte „Strasse der KZ-Opfer“. Im Laufe der 1980er Jahre nahm auch in Dachau das Interesse an der Geschichte der Jahre 1933-1945 zu. Eine Initiativgruppe, die sich 1984 zu einem Förderverein für eine internationale Jugendbegegnungsstätte in Dachau zusammenschloss, begann ihren viele Jahre andauernden Kampf für die Schaffung einer Begegnungsstätte. Ein seit 1983 jährlich im Sommer stattfindendes, Internationales Jugendbegegnungszeltlager sollte beispielhaft vor Augen führen, welche Funktion eine Begegnungsstätte in Dachau erfüllen könnte. Jugendlichen aus aller Welt sollte die Möglichkeit zur Begegnung mit Überlebenden des nationalsozialistischen Terrors gegeben werden. Und die Jugendlichen sollten über einen Kurzbesuch der Gedenkstätte hinaus Zeit haben, auch die Stadt Dachau und ihr Umfeld kennen lernen, um der verbreiteten Vorstellung „Dachau = KZ“ entgegen zu wirken. Von Seiten der Stadtregierung und auch des Landkreises stiess das Projekt auf massive Ablehnung. Und so dauerte es 16 Jahre bis in Dachau ein Jugendgästehaus eingeweiht werden konnte. Hans Holzhaider unterstützte diesen Kampf von Anfang an, zeitweise auch als Vorstandsmitglied des Fördervereins für eine internationale Jugendbegegnungsstätte. Und nach seinem Wechsel in die Münchner Redaktion der SZ begleitete er die Bemühungen des Fördervereins weiterhin von dort aus. Zu Beginn der 1980er Jahre hatte er wieder begonnen, ein weiteres Kapitel Dachauer Zeitgeschichte zu erforschen. In einer erneuten Artikelserie schilderte Hans Holzhaider „Das Schicksal der jüdischen Bürger“ Dachaus, die bereits am Vorabend der Pogromnacht vom 9. November 1938 aus der Stadt vertrieben worden waren. Anhand einer Namensliste aus den 1930er Jahren, die 14 maschinengeschriebenen und einen handschriftlich hinzugefügten Namen ehemaliger jüdischer Bürger der Stadt Dachau verzeichnete, machte er sich auf die Suche nach ihren Spuren. Zunächst hielt er die Schwierigkeiten für „unüberwindlich“. Letztendlich konnte er jedoch das Schicksal von dreizehn der auf der Liste Verzeichneten aufklären. Die Schwiegereltern des Besitzers der Dachauer Zieglerbrauerei, der Redakteur und Verleger Heinrich Hirsch und seine, an den Rollstuhl gefesselte Frau Hedwig waren im Jahr 1938 89, bzw. 67 Jahre alt als sie die Stadt Dachau bei Nacht und Nebel verlassen sollten. Da ihnen dies nicht gelang, wurden sie zunächst für einen Tag ins Dachauer Gefängnis gebracht, bevor sie in München ins israelitische Krankenhaus weiter geschickt wurden. Hedwig Hirsch verstarb im Jahr 1939, ihr Mann Heinrich im Jahr 1940 in München. Den grössten Teil seiner Informationen erhielt Hans Holzhaider in England. Dort besuchte er zunächst Johanna Jaffé, der es im Alter von 39 Jahren gelungen war, nach England zu entkommen. Ihre Mutter, Alice Jaffé war in München gebliebenen, bis sie im Jahr 1942 zuerst nach Theresienstadt und von dort nach Auschwitz deportiert wurde. Johanna Jaffé konnte Hans Holzhaider auch die Geschichte von Meinhold und Julie Rau erzählen, die ebenfalls nach England geflohen waren, wo sie im Jahr 1941 bzw. 1957 verstorben waren. Drei, dank der Kindertransporte nach England Entkommene, Ruth und Raimund Neumeier und Franz Wallach, die nach Ende des Krieges in England geblieben waren, erzählten Hans Holzhaider ihre eigene Geschichte und berichteten über das Schicksal ihrer Eltern, denen es nicht mehr gelungen war zu fliehen und die in den nationalsozialistischen Todeslagern ermordet worden waren. Der Schriftsteller Hermann Gottschalk hatte in München überlebt. Er kam im Jahr 1947 in München bei einem Unfall zu Tode. Der Industrielle Kurt Bloch, der nach dem 9. November 1938 an Stelle seines Vaters für mehrere Wochen ins Konzentrationslager Dachau verschleppt worden war, kehrte nach dem Krieg aus dem englischen Exil nach Deutschland zurück. 1961 kam auch er bei einem Unfall ums Leben. Julius Kohl, der bei der Familie Neumeier zur Untermiete gewohnt hatte, war 1943 in Auschwitz ermordet worden. Mit dieser Arbeit hat Hans Holzhaider den ehemaligen jüdischen Dachauern ein Denkmal gesetzt, ab diesem Zeitpunkt waren sie Teil der Stadtgeschichte. 1984 erschien dann die Broschüre „…vor Sonnenaufgang. Das Schicksal der jüdischen Bürger Dachaus“ Sie fand ein starkes Echo und wurde im Jahr 2006 neu aufgelegt. Sozusagen als Weiterentwicklung Hans Holzhaiders Recherchen begann ein Arbeitskreis „Reichskristallnacht“ mit den Vorbereitungen für eine Ausstellung, „Dachau ist somit judenfrei“ 10. November 1938: 15 jüdische Bürger werden aus Dachau vertrieben- mehr als zehntausend Juden werden in das Konzentrationslager eingewiesen.“ Es gelang dem Arbeitskreis, die Dachauer Stadtregierung davon zu überzeugen, die Ausstellung mit 15 000 DM zu unterstützen und sie anlässlich der 50. Wiederkehr des Pogroms im November 1988 im Foyer des Dachauer Rathauses zu zeigen. Als die in England lebenden ehemaligen jüdischen Jugendlichen Dachaus ihre Teilnahme an der Ausstellungseröffnung von der Errichtung einer Gedenktafel für die ermordeten Juden der Stadt abhängig machten, kam es allerdings zu erheblichen Irritationen. Der Kulturausschuss des Stadtrates lehnte in Abwesenheit des Oberbürgermeisters den Vorschlag einer Gedenktafel zunächst als „unzweckmäßig“ ab, da in der Gedenkstätte Dachau bereits aller, von den Nationalsozialisten ermordeten Juden gedacht werde und teilte dies auch flugs den Eingeladenen mit. Dieser Entschluss konnte zwar wieder rückgängig gemacht werden, aber zur Eröffnung der Ausstellung wurde am Dachauer Rathaus nur eine Gedenktafel ohne die Namen der Ermordeten angebracht. Die Namen wurden einige Monate später durch eine weitere Tafel ergänzt. Es war letztendlich den intensiven Bemühungen des Dachauer Bürgers und KZ-Überlebenden Nikolaus Lehner zu verdanken, der von sich aus Kontakt mit den Überlebenden in England aufgenommen hatte, dass diese doch noch anreisten. Die Ausstellung wurde in den darauffolgenden Jahren als Wanderausstellung in zahlreichen bayerischen Orten gezeigt. Hans Holzhaider hatte die Dachauer Redaktion bereits 1986 in Richtung München verlassen. Er blieb jedoch dem Anliegen der Erinnerung an die nationalsozialistischen Verbrechen weiterhin treu. Für das von 1985 bis 2009 erscheinende Jahrbuch DACHAUER HEFTE verfasste er im Jahr 1987 einen Beitrag über die Kinderbaracke von Indersdorf und 1994 einen Recherchebericht über „Schwester Pia - Nutznießerin zwischen Opfern und Tätern.“ Heute ist Hans Holzhaider als langjähriger Gerichtsreporter der Süddeutschen Zeitung überregional bekannt. Auch nach seiner Zeit in Dachau beschäftigten ihn die Abgründe menschlichen Handelns, wenn auch in anderen Kontexten. Für seine Gerichtsreportagen wurde er 2013 mit dem renommierten Herbert-Riehl-Heise-Preis und in diesem Jahr mit dem Karl-Buchrucker-Preis der Inneren Mission ausgezeichnet. Im Rückblick gesehen wurde auch Hans Holzhaiders Arbeit in Dachau entscheidend von der Begegnung mit überlebenden Opfern der nationalsozialistischen Gewalt geprägt. Diese haben inzwischen fast alle diese Welt verlassen. Hans Holzhaider hat durch seine emphatische doch immer nüchterne und unsentimentale Berichterstattung seinen Lesern zahlreiche Verfolgungsschicksale nahe gebracht. Er hat für die journalistische Berichterstattung in Dachau hohe Maßstäbe gesetzt, die auch für seine Nachfolger wegweisend waren. Deshalb ist es eine Genugtuung, dass Hans Holzhaider heute hier im Zentrum der Stadt Dachau mit dem Hermann-Ehrlich-Preis 2014 geehrt wird. Damit gerät seine für diese Stadt so bedeutsame Arbeit noch einmal ins Blickfeld der interessierten Öffentlichkeit. Ich gratuliere von Herzen. Barbara Distel

Rede von Hans Holzhaider zur Verleihung des Hermann-Ehrlich-Preises 2014

Liebe Frau Heinze-Ehrlich,
sehr geehrte Mitglieder der Jury,
liebe Barbara Distel,
mein Damen und Herren,

ich freue mich sehr über den Preis, der mir heute verliehen wurde, aus mehreren Gründen.
Ich kannte Hermann Ehrlich nicht persönlich – ich habe ihn zwar, wie mir Jürgen Zarusky versichert, einmal am Schlagzeug gehört, aber ich muss zugeben, dass ich daran keine konkrete Erinnerung habe. Ich habe mir aber von ihm erzählen lassen, von einem Mann, der sich in seinem Beruf als Sozialpädagoge wie auch als Mensch und Staatsbürger mit Energie, Courage und auch mit Witz ins politische Leben eingemischt hat, und ich empfinde es als eine Ehre, diesen Preis entgegenzunehmen, der seinen Namen trägt.

Ich freu mich, dass dieser Preis aus Dachau kommt, der Stadt, in der ich acht Jahre lang sehr gerne gelebt und gearbeitet habe. Das waren journalistisch spannende Jahre, und ich habe hier viele wunderbare Menschen kennengelernt, sowohl in der Stadt als auch in der Gedenkstätte. Ich hatte fabelhafte Kollegen – ich freue mich, das einige heute hier sind - sogar meinen jetzigen Chefredakteur habe ich hier kennengelernt, den ich damals noch auf Termine schicken durfte, und, nicht zu vergessen, meine heutige Ehefrau.

Ich freue mich, dass Sie mir diesen Preis für eine Arbeit verliehen haben, die sehr lange zurück liegt. Das zeigt mir, dass die Geschichten, die ich damals geschrieben habe, immer noch nachwirken, auch nach mehr als 30 Jahren. Das ist doch etwas Besonderes für einen Tageszeitungsjournalisten, der damit leben muss, dass in seine tollen Geschichten von heute morgen der Fisch eingewickelt wird. Sie wirken auch in mir noch nach. Obwohl ich seit damals viele Geschichten geschrieben habe, Geschichten ganz anderer Art, kommt es mir doch so vor, als wären diese Artikelserien über die sechs Männer, die beim so genannten Dachauer Aufstand ums Leben kamen, und über die jüdische Bürger, die aus Dachau vertrieben wurden, das Wichtigste, was ich in meinem Journalistenleben zustande gebracht habe.


Sie haben sich damals aus dem ganz normalen journalistischen Alltag entwickelt. Diejenigen unter Ihnen, die keine Journalisten sind, wissen nicht, welche profanen Ängste einen Lokalredakteur plagen. Wenn man jeden Tag vier oder sechs oder acht Zeitungsseiten füllen muss, ohne, wie die Kollegen von der „großen“ Zeitung auf ein Dutzend Presseagenturen und einen großen Stab von Korrespondenten zurückgreifen zu können, dann ergreift einen oft der horror vacui, die panische Angst vor der leeren Seite. Dann träumt man davon, dass es vier Uhr nachmittags ist und der Redaktionsschluss naht, und immer noch nichts passiert ist, was einen Aufmacher lohnt oder womit man die Seite drei füllen könnte. Diese Ängste steigern sich in den Saure-Gurken-Zeiten, in den Tagen zwischen Weihnachten und Dreikönig, und vor den Sommerferien ins Unermessliche. Deshalb zermartert sich jede Lokalredaktion alle Jahre wieder den Kopf über ein Thema für die „Sommerserie“. Sechs, acht oder noch besser zehn Folgen, die jeweils eine ganze Seite füllen und die man einfach „ins Blatt hängen“ kann, wenn sechs Wochen lang kein Gemeinderat tagt und nicht einmal die Fußball-C-Klasse für ein paar Spielberichte gut ist.

„Die Sechs vom Rathausplatz“ waren so eine Sommerserie. Unsere Redaktion befand sich damals hier in diesem Gebäude, und mindestens einmal am Tag ging man oben an der Sparkasse vorbei und damit auch an der Tafel, die dort recht unauffällig in die Wand eingelassen ist. Sechs Namen – „Am 28. April von der SS erschossen im Befreiungskampfe“. Das war doch interessant: Was für ein Befreiungskampf? Wer waren diese Männer? Wie kam es dazu, dass sie erschossen wurden? Ganz einfache Fragen.

Wahrscheinlich kam ich nur deshalb auf die Idee, weil ich von außen kam. Als ich 1978 bei der Süddeutschen Zeitung anfing, war ich vorher noch nie in Dachau gewesen. Ich war auch noch nie in der KZ-Gedenkstätte gewesen. Ich hatte eine Art natürlicher Affinität zu dem Thema, weil ich auf dem Obersalzberg aufgewachsen bin. Meine Familie kam 1949 dorthin, wir wohnten in einem der Häuser, die den Bombenangriff im April 1945 halbwegs heil überstanden hatten. Göringhaus, Bormannhaus, Hitlerhaus, Speerhaus, SS-Kasernen, waren für uns als Kinder ganz normale geographische Begriffe, ohne jede historische Assoziation. Als ich in Berchtesgaden ins Gymnasium ging, kam der Nationalsozialismus im Unterricht noch nicht vor. Auf geheimnisvolle Weise kamen wir mit dem Geschichtsstoff bis zum Schuljahresende immer nur bis zur Weimarer Republik.

Auch deshalb war Dachau für mich ein aufregendes journalistisches Neuland. Gleich in der ersten Woche ging ich in die Gedenkstätte. Der Parkplatz stand voller Autos aus aller Herren Länder. Man brauchte die Leute nur anzusprechen, sie waren alle aufgeschlossen und gesprächsbereit. Viele hatten persönliche Beziehungen zum ehemaligen Konzentrationslager, irgendein Onkel oder Schwiegervater oder Arbeitskollege kannte jemanden, dessen Vater oder Schwager oder Onkel einmal im Lager gewesen war. Ich habe nie erlebt, und ich wäre auch nie auf die Idee gekommen, dass jemand mich oder sonst jemanden schräg anschauen könnte, weil ich in Dachau lebe und arbeite. Erst nach und nach habe ich gelernt, welche Vorbehalte und wohl auch Ängste für die alteingesessenen Dachauer mit der Existenz der Gedenkstätte verknüpft waren. Ich habe das lange Zeit nicht wirklich verstanden, aber es war einfach so. Nie werde ich die Sitzung im Stadtrat vergessen, als es um den Plan der Sinti und Roma ging, in Dachau ein Kulturzentrum zu errichten, und wie der Oberbürgermeister den Vertretern der Sinti, die im Sitzungssaal waren, zurief, man wünsche ihnen viel Glück bei ihrem Vorhaben, und die Dachauer könnten ihre Gefühle gut verstehen, denn sie seien ja selbst eine kleine verfolgte Minderheit, und deshalb könne man ihnen, den Dachauern, auf keinen Fall zumuten, dass sie noch so eine Negativeinrichtung (gemeint war: wie die Gedenkstätte) auf ihrem Grund und Boden beherberge.
Als Journalist hat man von diesem Spannungsverhältnis profitiert. Auch in Dachau gab es natürlich die üblichen kommunalpolitischen Themen, die Bebauungspläne, den täglichen Polizeibericht, den öffentlichen Nahverkehr, den Arbeitsmarkt. Aber irgendwie, so schien es mir, war das alles verwoben mit und eingebettet in die ganz besondere Situation dieser Stadt. Es war, als ob es über der alltäglichen Ebene des politischen Lebens noch so eine Art Metaebene gab, einen Subtext, den man ständig mitlesen musste, um wirklich zu verstehen, was hier vor sich ging. Wenn in Dachau über die Errichtung einer städtischen Gemäldegalerie diskutiert wurde, dann musste man den Kontext eines Oberbürgermeisters mitdenken, der einen Kunstband nach dem anderen produzierte mit dem erklärten Ziel, das „andere Dachau“ , das „Nicht-KZ-Dachau“ zu propagieren. Wenn hier ein Schuldirektor Hand in Hand mit dem Stadtpfarrer in eine Ausstellung marschierte, um das Bild einer barbusigen Madonna abzuhängen, nur weil ein angeblich sozialdemokratischer Rechtsanwalt das zu seinem Wahlkampfthema gemacht hatte, dann bekam das eine besondere Qualität, weil es eben in Dachau stattfand , und nicht in Erding oder Fürstenfeldbruck.
Das war, wie gesagt, das Spannende an der Redakteursarbeit in Dachau. Irgendwelche Behinderungen gab es nicht. Es bedurfte keineswegs besonderer Zivilcourage, sich mit Themen aus dem Umfeld des KZ-Gedenkstätte zu befassen, niemand beschwerte sich bei der Chefredaktion (jedenfalls weiß ich nichts davon), niemand versuchte, mir Knüppel zwischen die Beine zu werfen. Die Schwierigkeit war eine andere.
Als ich die Idee hatte, den sechs Namen auf der Gedenktafel an der Sparkasse nachzuforschen, dachte ich, das würde eine ganz einfache Sache. Schließlich waren Straßen in Dachau nach diesen Männern benannt. Ich war sicher, irgendwo im Stadtarchiv gebe es eine Mappe mit Informationen, Lebensläufen Fotos. Aber es gab - nichts. Man wusste: Drei Namen gehörten Häftlingen des Konzentrationslagers, die anderen drei waren „Dachauer Bürger“. Mehr wusste man nicht. Diese Erfahrung wiederholte sich ein paar Jahre später, als ich die Namensliste der ehemals in Dachau ansässigen Juden in die Hand bekam. Kein Mensch wusste etwas über sie. Sie waren weg, aus dem Gedächtnis verschwunden. Das war das Problem.

Natürlich gibt es, wenn man nur lange genug fragt, immer jemanden, der etwas weiß. Ich will nur ein Beispiel erzählen. Wer war jener Anton Hechtl, der als einer der „Dachauer Bürger“ auf der Tafel stand? Hechtl ist kein seltener Name im Dachauer Land. Allein in der Stadt Dachau gab es damals zehn oder zwölf Hechtls im Telefonbuch. Man telefoniert sie alle durch – keiner kennt einen Anton Hechtl, der 1945 erschossen wurde. In den Sterbebüchern der Stadt ist im April 1945 kein Anton Hechtl verzeichnet. Die anderen fünf stehen da, Hechtl nicht. Vorsichtshalber blättert man weiter, ins Jahr 1946 – und tatsächlich, da steht er: Am 1. April 1946 hat eine Magdalena Gastl, geborene Doll, den Tod ihres Schwagers Anton Hechtl beurkunden lassen. Todestag: Der 28. April 1945. Und Frau Gastl lebt noch, sogar an der gleichen Adresse wie 1946. Aber: Sie will nichts erzählen. „Naa, da kann I Eahna garnix sagn. Was soid ma sagn über so an Mann. Er war anständig, er is seiner Arbat nachganga.“ Seltsam. Auch diesem Phänomen bin ich später noch öfters begegnet. Hier in Dachau wird– wurde damals –dieser Aufstand im April 1945 von manchen noch immer als eine Art Makel empfunden. Warum? Genau weiß ich es nicht, aber ich glaube, weil anständige Leute keinen Aufstand machen. Weil da Kommunisten beteiligt waren. Mit Kommunisten will man auf keinen Fall in Verbindung gebracht werden. Es gab ja beim Dachauer Aufstand noch einen siebten Toten, der mit dem Aufstand garnichts zu tun hatte, der nur zufällig mit seinem Leiterwagen vorbei kam. Auch mit dessen Angehörigen wollte ich sprechen, aber sie weigerten sich rundweg. Auf keinen Fall. Kommt nicht in Frage.

Aber Frau Gastl ließ sich nach langem, geduldigen Zureden, doch zu einem Satz bewegen: „Da is noch a Sohn, der wohnt in Indersdorf.“ Und so fuhr ich zu Josef Hechtl in Indersdorf, und der sprach gern über seinen Vater. Er hatte auch ein Foto von ihm, das einzige, dases von ihm gibt. Es zeigt ihn am Tag seiner Hochzeit, mit seiner Braut Katharina. Es ist immer ein besonderer Moment, wenn jemand, nach langer Recherche, ein Foto auf den Tisch legt, und ein Mensch, von dem man bis dahin nur den Namen wusste, ein Gesicht bekommt.


Ich sprach mit Rudi Schmid, damals der Vorsitzende der Dachauer SPD, und siehe, ihm fiel ein, dass es irgendwo auf seinem Dachboden ein handgeschriebenes Manuskript seines Vaters gebe, und er fand es tatsächlich, und es enthielt einen Bericht über die Vorgeschichte und den Verlauf des Dachauer Aufstands, an der der Maurer Jakob Schmidt maßgeblichen Anteil hatte. Und natürlich gab es Richard Titze, einen der Gefangenen, die am Vorabend des Aufstands aus dem KZ geflohen waren und die Georg Scherer in einer Scheune bei Mitterndorf versteckt hatte. Titze war der einzige von ihnen, der in Dachau geblieben war. Er wusste, dass seine Kameraden Erich Hubmann und Toni Hackl aus Österreich stammten, und ein Brief an die Polizeidirektion in Graz, vor der Zeit, in der der Datenschutz solche Recherchen nahezu unmöglich machte, führte schließlich zu Josef Hackl, dem älteren Bruder Tonis. Der kam aus der sozialistischen Arbeiterjugend, hatte sich am Aufstand gegen den Kanzler Dollfuß beteiligt, war eingesperrt worden, und hatte sich dann den Internationalen Brigaden im Spanischen Bürgerkrieg angeschlossen. Toni, der seinen älteren Bruder vorbehaltlos bewunderte, war ihm nachgereist. Nach dem Sieg Francos waren die Brüder in Frankreich interniert worden, bis schließlich die Gestapo auch dort auftauchte und die Spanienkämpfer nach Dachau verfrachtete. Erich Hubmann und sein Bruder Josef hatten die gleiche Odyssee durchlebt – von Österreich ins Exil in die Sowjetunion, von dort nach Spanien, Frankreich, und schließlich ins Konzentrationslager nach Dachau. Alles hatten sie überlebt – bis zu jenem letzten Tag auf dem Platz vor dem Dachauer Rathaus. Ich besuchte Erich Hubmanns Familie in Bruck an der Mur, ein paar Kilometer südlich von Graz. „Das ist ein sozialistisches Haus“, war der erste Satz, den Erichs Bruder Richard mir entgegenrief. Sie waren stolz auf ihren Bruder, der gegen die Faschisten gekämpft und zuletzt dafür mit dem Leben bezahlt hatte, und sie empfanden es als späte Genugtuung, dass nach so vielen Jahre noch jemand kam und sich nach der Lebensgeschichte ihres Bruders erkundigte.


Die gleiche Erfahrung machte ich später, als ich Johanna Jaffe, Franz Wallach und Ruth und Raimund Neumeyer besuchte, die vor den Nazis nach England geflohen waren. Dass jemand aus Deutschland kam und ihre Geschichte hören wollte, war eine Erleichterung für sie, nachdem sie sich schon längst damit abgefunden hatten, dass sie nicht nur vertrieben, sondern auch schlichtweg vergessen worden waren. Gerade vor ein paar Tagen hat Tim Locke, ein Sohn von Ruth Neumeyer, einen Text ins Internet gestellt, in dem er davon erzählt, welche Veränderung mit seiner Mutter vorging, nachdem ich sie in England besucht hatte. „Es war, als ob sich Schleusentore öffneten“, schreibt er. „Plötzlich war sie erlöst von diesem düsteren Schweigen, und sie konnte uns von ihren Eltern erzählen, von deren Verschwinden, von ihrem Abschied und der Flucht nach England.“

Journalisten können eine Menge Unheil anrichten, und in den vielen Jahren, die ich als Gerichtsreporter gearbeitet habe, habe ich einige Beispiele dafür erlebt. Aber manchmal können sie auch etwas Gutes bewirken. Sie können dazu beitragen, dass Menschen sich mit ihrer Geschichte versöhnen. Nach allem, was ich von Hermann Ehrlich weiß, glaube ich, dass so ein Journalismus in seinem Sinne ist. Deshalb freue ich mich, und ich fühle mich geehrt, dass Sie mir diesen Preis verliehen haben, und ich danke Ihnen herzlich dafür.